Einige Beispiele zur Entzifferung
"Die Kunst, Bilder zu lesen"
hatte Franco Maria Ricci einen Artikel in seiner Zeitschrift übertitelt.
Für die Bilder der Renaissance oder des Mittelalters ist diese Kunst weit entwickelt. Auch Darstellungen der Antike oder aus dem alten Ägypten können wir sehr gut lesen. Wir kennen die Bedeutung vieler Symbole und der Anordnung der Figuren, ihrer Haltung und Gesten.
Jetzt will ich an einigen Beispielen zeigen, wie man die eiszeitliche Höhlenkunst lesen kann.
Das Wort "lesen" verweist darauf, dass wir es mit einer Bilderschrift zu tun haben.
Die Bilder auf den Höhlenwänden stellen das Weltbild der Eiszeitmenschen dar, gewonnen aus der Beobachtung der Umwelt und der Himmelsvorgänge.
Wie in einem modernen Comic Enten und Mäuse die alltäglichen Abenteuer der Menschen nacherleben, so durchleben in den Höhlencomics Pferde und Wisente, Löwen, Urrinder und Mammuts die jährlichen Ereignisse am Himmel und in der Natur.
CHAUVET
Auf diesem "Bildfeld der Pferde" aus der Nachbildung der Höhle Chauvet ist der Beginn der Welt dargestellt.
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Foto: Panneau-des-chevaux © Patrick Aventurier ---Grotte Chauvet 2
Die Schöpfung beginnt in der Nische rechts, von dort laufen die Tiere nach links.
Zuerst wurde der Mond in die Welt gesetzt, als schwarzer Auerochs, also Neumond. Er ist drei Mal vorhanden, drei ist die Zahl des Mondes (3 Mondphasen). Da er zuerst entstand, ist er bereits am weitesten nach links gelaufen.
Als nächstes kam die Sonne in die Welt, als Pferd, im Moment der Entstehung ebenfalls schwarz. Das Sonnenpferd ist vier Mal vorhanden, denn 4 ist die Zahl der Sonne (4 Sonnwendpunkte, die Ecken der Welt).
Das wars anscheinend schon, jetzt kommt nichts mehr.
Die Nashörner sind ebenfalls Mondtiere und zeigen die verschiedenen Mondphasen.
Rechts im Bild sieht man einen Teil der "Nische der Löwen".
Im Ende dieser Nische läuft bei Regenwetter Wasser aus der Wand. Es enthält gelösten roten Ocker, der sich auf dem Boden absetzt. Die Form der Nische, das Wasser und die rote Farbe haben bei den Menschen den Eindruck einer Vagina erweckt, aus der Fruchtwasser und Menstruationsblut fließen. Es ist die Vagina der Mutter Erde und sie gebiert hier Mond und Sonne als Ur und Pferd. Die Mutter Erde ist als Löwin dargestellt. Auerochs und Pferd laufen nach links aus der Nische, aus der Erde hinaus. Die Löwin bleibt zurück. Dieses Wesen des Anfangs
und des Endes ist die Erde und lebt in der Erde.
LASCAUX
Pferd zwischen zwei Rindern aus dem Stiersaal; Nachbildung der Höhle Lascaux
Foto: Don Hitchcock, www.donsmaps.com
Im Stiersaal und seiner axialen Verlängerung sind die Himmelsvorgänge eines ganzen Jahres abgebildet.
Die zentrale Darstellung des Stiersaals zeigt die abendliche Sommersonnenwende Anfang Juli. Zu dieser Zeit schien (und scheint) die untergehende Sonne auf den Höhleneingang und vielleicht bis in den Stiersaal. (Die heute üblichen Daten 21. Juni und 21. Dezember sind nicht aus der Beobachtung der Wenden gewonnen, sondern aus der Messung der Sonnenhöchst- und Tiefststände.)
Das Sonnenpferd hat seinen höchsten Stand am Himmel, höher als die weißen Vollmondrinder, welche im Sommer ihren niedrigsten Stand haben.
Der rote Bison rechts und die schwarz-roten Rinder in der axialen Verlängerung stellen je einen Neumond dar. Es vergehen also vier Monate bis zur Wintersonnenwende rechts unten. Die wird durch die Zwillingspferde dargestellt. Das zweite Pferd ist hier nicht nur waagerecht umgedreht, sondern auch senkrecht. Das führte zu der alten Bezeichnung „stürzendes Pferd“.
Dort wo der Höhlenbesucher umdrehen muss, dreht auch die Sonne um. Es ist Mitte Dezember, abendliche Wintersonnenwende.
Die Winterwende haben die Höhlenmalerinnen gleich mehrfach dargestellt. Das zeigt uns die Bedeutung dieses Moments für die Menschen.
Die letzte Darstellung auf der linken Wand zeigt die Pferdezwillinge. Die erste Darstellung auf der rechten Wand wiederholt den Ursprungsmythos: Zur Winterwende erscheint zuerst der Mond, als Bison, dann das Sonnenpferd.
Es folgt eine emblematische Zeichnung, welche Jahrzehntausende lang weiter verwendet wurde: zwei sich frontal gegenüberstehende Steinböcke als Zeichen der Winterwende, dazwischen das Jahr.
Der linke dunkle Steinbock steht für die vergangenen Monate der absteigenden Sonne, der rechte helle für die kommenden Monate der aufsteigenden Sonne. Die neue Sonne kommt entsprechend oben aus dem hellen Ibex hervor.
Die Sonnenpferde und Mondrinder laufen dann weiter auf der Wand, zurück in den Stiersaal.